Man stelle sich ein Schaufenster zu einem schicken Laden vor, vor dem man etwas verwirrt stehen bleibt. Da platzen die verschiedenen Produkte aus allen Nähten, die Fläche ist vollgestopft mit allerlei Krimskrams, die zusammen kein wirkliches Ganzes ergeben wollen, aber allesamt sehr hübsch verpackt sind und ein interessantes Inneres andeuten. Aber der Laden hat geschlossen, man darf sich keines der Produkte aus dem überfüllten Schaufenster genau ansehen und so zieht man schulterzuckend weiter und vergisst diese nebensächliche Begegnung schon nach kurzer Zeit komplett. Und ja, ihr habt natürlich richtig geahnt: “Kind 44” ist genau dieses vollgestopfte, inhaltlich nebulöse, aber hübsch verpackte Schaufenster. Ein oberflächlich absolut stimmiger Film, der sich inhaltlich aber Unmengen an verschiedenen Plotlines aufbürgt, somit weder seine Geschichten, noch seine Figuren angemessen behandeln kann und letztendlich (ebenso wie seine Hauptfigur) zum absolut vergessenswerten Durchschnitt degradiert wird.
“Kind 44” avanciert zu nichts Geringerem als zum Paradebeispiel der misslungenen Literaturverfilmung, welche primär bei ihrem Drehbuch unübersehbare Mängel mit sich bringt. Und das überrascht. Vor allem im Hinblick auf das bisherige Schaffen des Drehbuchautors Richard Price ("Kopfgeld"), der sich immerhin für die großartige, komplexe und schriftlich feine Serie “The Wire” verantwortlich zeigte. Aber genau diese Aspekte gehen der Romanverfilmung von "Kind 44”, trotz interessanter Ausgangslage, ab. Die Geschichte dreht sich dabei um den MGB-Agenten Leo Demidow, der in der stalinistischen Sowjetunion der frühen 1950er Jahre eine Reihe an Kindermorden aufklären soll und dabei langsam aber sicher am totalitären Herrschaftssystem des Landes zu zweifeln beginnt.
Was interessant klingt und in Romanform durchaus Anklang beim lesenden Publikum fand, wirkt in der filmischen Variante aber nicht nur arg zusammengestückelt und schlecht erzählt, sondern auch überraschend emotionslos. “Kind 44” lässt sich einfach keine Zeit seine Figuren vernünftig vorzustellen und den Zuschauer in ihr Gefühlsleben eintauchen zu lassen. Dazu werden auch zu viele Charaktere in den Rahmen gequetscht, die alle kurz am Rand auftauchen und zu inhaltlichen Zweckmitteln degradiert werden. Aber nicht nur die Nebenfiguren ereilt dieses Schicksal, selbst die Motivationen der Hauptfiguren bleiben über weite Strecken wirr. So pendelt Noomi Rapace’s ("Prometheus") Charakter der Raisa ständig zwischen verschiedenen, nicht nachvollziehbaren Entscheidungen und Überzeugungen hin und her, sodass ihre zentrale Figur bis zum Ende einfach vollkommen uninteressant bleibt. Und auch Gary Oldmans ("Planet der Affen - Revolution") General Nesterov darf seinen Hintergrund nur durch Nebensätze ausdrücken, wodurch das Innenleben seines Charakters ebenso unergründlich bleibt, wie der Rest dieses Films.
Die Darstellerreige, die “Kind 44” in seinen 137 Minuten aufführt, ist dabei zwar durchaus bemerkenswert, wirklich gebraucht wird davon aber kaum einer. Vincent Cassel ("Die Schöne und das Biest"), Charles Dance ("Game of Thrones") und Nikolaj Lie Kaas ("Schändung") können alle nicht mehr als eine Handvoll Szenen ihr eigen nennen, während vor allem Joel Kinnamans ("Robocop") Vasili fast zur bösen Witzfigur avanciert. Nur Tom Hardys ("The Drop - Bargeld") Leo Demidov bekommt als Hauptcharakter genügend Leinwandzeit und entwickelt sich dementsprechend nachvollziehbarer. Es ist aber vor allem Hardys starke Performance, die diese Figur zu einem guten Protagonisten formt. Hardy kann hier erneut beweisen, dass er ein mehr als fähiger Darsteller ist, der auch einen misslungenen Film als Hauptcharakter tragen kann.
Um eine wirklich emotionale Bindung zum Zuschauer aufzubauen, fehlen “Kind 44” also die gelungenen Charaktere. Aber nicht nur diese sind problematisch, sondern auch der Umstand, dass der Film den Zuschauer in gerade zu exzessiver Weise mit Inhalt bewirft: Neben der Geschichte um den genannten Kindermörder, beschäftigt sich “Kind 44” noch mit Demidovs Hintergrund, seiner Diskreditierung, seinem neuen Leben, seinem emotionalen Umschwung sowie den Problemen mit seiner Frau (selbst die Chemie zwischen Hardy und Rapace mag nicht funktionieren, obwohl jene letztes Jahr in "The Drop" noch wunderbar aufging). Und auch die anderen Figuren wollen ja noch sowas wie einen Hintergrund spendiert bekommen. Daneben wird zudem immer wieder relativ plakativ der totalitäre Stalinstaat angeprangert. Die Message dahinter wird dann zwar relativ deutlich, entzieht sich emotional aber so stark, dass sie, für so einen Film, zu wenig Wirkung entfalten kann und zudem noch recht oberflächlich dahin geklatscht wirkt.
Immerhin sind die Sets des Films wirklich ausgesprochen gelungen, wie auch die gesamte Atmosphäre. Die kühle und kompromisslose Welt von “Kind 44” überträgt sich wirksam auf den Zuschauer und stellt so wohl das Einzige dar, was an diesem Film wirklich mitreißen kann. Zudem zeichnet sich “Kind 44” durch einen sehr wirksamen und abschreckenden Einsatz von Gewalt aus, der nie in übermäßigen Gore ausschweift, aber heftige Momente nachhaltig unterstreicht. Wirklich retten kann dies den Film aber keinesfalls. Plötzliche Setwechsel, kaum Eingewöhnungsphasen, brutale Cuts und immer wieder Übergänge bei denen man das Gefühl bekommt, dass mindestens ein, zwei ruhige Töne dazwischen abhanden gekommen sind. “Kind 44” muss aufgrund dieser gehetzten Erzählweise, emotional distanzierten Figuren und einem absolut überladenen Plot inhaltlich leider als misslungen gewertet werden, während sich immerhin die Oberfläche durch hübsche Sets und eine dichte Atmosphäre auszeichnen kann. Das macht aber, so wie wir alle wissen, noch lange keinen guten Film.