Gesehen im Rahmen des Film Festival Cologne 2023.
Andrew Haigh (45 Years) entführt uns mit All of Us Strangers nicht in die Nostalgie, sondern auf eine Reise in die Erinnerungen - Erinnerungen, die wir nie selbst erlebten. Es sind Erinnerungen, die uns genommen wurden und in uns eine tiefes Begehren nach einem Dasein ohne Einsamkeit erwecken. In diesem Film zirkuliert eine Sehnsucht, so zart und vertraut, dass sie in manchen Augenblicken fast zu zerbersten scheint, überflutet von purer Schönheit. Diese Schönheit ist nicht in monumentalen Bildern zu finden, sondern in der Verschmelzung zahlreicher, großartiger Elemente zu einer Geschichte, in der Freude und Trauer sich kaum voneinander unterscheiden.
Die Geschichte des Autors Adam (Andrew Scott, Fleabag), der auf seiner autobiografischen Reise seine verstorbenen Eltern wiederfindet, ist keine gewöhnliche Genreerzählung. Andrew Haigh hegt kein Interesse daran, Dinge zu ergründen oder mysteriöse Elemente in die Adaption des Romans Strangers von Taichi Yamada einzuführen. Vielmehr handelt es sich um einen reichhaltig ausgestalteten Wunsch, die auf der Leinwand Gestalt annimmt. Wenn Claire Foy (Die Wundersame Welt des Louis Wain) und Jamie Bell (Snowpiercer) die Rollen von Adams Eltern übernehmen und dabei genauso alt erscheinen wie er, verströmt der Film eine Herzlichkeit, die keine Geheimnisse birgt, sondern tiefe Verbundenheit ausstrahlt. Eine Emotionalität, die Adam nach und nach auf einer romantischen Ebene auch mit seinem Nachbar Harry erreicht. Dieser wird von Paul Mescal verkörpert, der dem Autor dieser Zeilen nach Aftersun erneut das Herz zerbrochen hat. Er und alle anderen Darstellerínnen liefert hier eine kraftvolle Performance ab. Zum dahinschmelzen.
Es wäre einfach gewesen, die Wiederbegegnung zwischen Sohn und Eltern als herzzerreißende Dramatik darzustellen. Genauso effektvoll wie die Inszenierung von Konflikten zwischen ihnen aufgrund ihrer getroffenen Entscheidungen hätte sein können. Doch All of Us Strangers meidet solche plakativen dramatischen Kunstgriffe. Stattdessen gewährt er seinen Charakteren und den Situationen Raum zur Entfaltung. Ja, es gibt Spannungen, und ja, der Film rührt zu Tränen und schreckt gelegentlich vor krassen Sentimentalitäten nicht zurück, aber nichts davon geschieht zufällig. Alles in diesem Werk atmet, ergibt Sinn und trägt dazu bei, unseren Blick auf die Vergangenheit und die bevorstehenden Ereignisse zu erweitern, während es gleichzeitig die Figuren selbst vertieft.
Am Ende verlassen wir und die Kamera diesen Film nicht als Fremde, sondern als Menschen, die etwas über das Leben gelernt haben. Natürlich ist dies eine Illusion, doch auch Utopien können uns und andere bereichern. All of Us Strangers ist ein überzeugendes Beispiel dafür, auch wenn Andrew Haigh nicht den Fehler begeht, die Sehnsucht nach der Vergangenheit und das Eintauchen in alte Zeiten als höchstes Gut anzupreisen. Im Gegenteil verdeutlicht er auf eine relativ unerbittliche, wenn auch wunderschöne Weise, wie Menschen für andere blind werden können, wenn sie sich ausschließlich im Gestern verlieren und nicht im Heute leben. Dieser Film erinnert uns daran, offen für das Leben zu sein, denn sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart prägen uns mit jeder Erfahrung, sei sie freudig oder schmerzlich. Es ist eine erhebende Melancholie, die den Zuschauer mit inniger Intimität erfüllt und verdeutlicht, wie bewegend und bereichernd das Kino sein kann.