Was bedeutet dir der Horrorfilm als Genre?
Es ist die Brücke zwischen den verschiedenen Kunstformen, die mich beschäftigen, und die universale Analogie unserer Existenz. Nur Horror vermag die Essenz der menschlichen Geschichte und Gesellschaft zu erfassen. Kein Gefühl ist so universell wie Angst. Sie ist das Erste und Letzte, das wir fühlen, und von all unseren Emotionen die stärkste.
Wann waren deine ersten Berührungspunkte mit dem Horrorfilm?
Mit etwa vier oder fünf Jahren hab ich auf unserem schrottigen Schwarz-Weiß-Röhrenfernseher Frankenstein geschaut und kurz danach Frankensteins Braut. Grusel-Stories und Horror-Comics mochte ich schon immer, daher war der Schritt zum Horrorfilm-Fan ein kleiner.
Was hat das mit dir gemacht und inwieweit haben dich diese (Seh)Erfahrungen geprägt?
Zum Einen waren Horrorfilme spannende Unterhaltung und Ablenkung von realen Sorgen. Die übernatürlichen Bedrohungen waren unendlich weit weg von meinen damaligen - und im wesentlichen heutigen - Ängsten. Zum Anderen bot das Genre Möglichkeiten zur Identifikation, die es in Kinderfilmen praktisch nie gab. Eine Grundkonstellation ist die der etablierten Gemeinschaft gegen Außenstehende. Selbst die Horrorfilme, die nicht mit “den Anderen” sympathisieren, sondern sie ächten, vermitteln einem gerade als Kind grundlegende soziale Schismen und Hierarchien, und geben Einblick in die Paranoia und Neurosen der bürgerlichen Schicht. Und das ist eben auch amüsant: Das Bürgertum hasst seine Monster, aber fürchtet sie noch mehr aus der nicht ganz unberechtigten Angst, dass es ihnen mit uns eines Tages ergeht wie den Eloi mit den Morlocks.
Gibt es Filmszenen oder bestimmte Momente, die dir bis heute noch lebhaft in Erinnerung geblieben sind?
Der (scheinbare) Tod der Kreatur in Frankenstein in der brennenden Mühle hat mich damals beim ersten Ansehen sehr aufgewühlt, denn natürlich habe ich mit der Kreatur gefühlt. Ich denke, jedes einigermaßen empathische Kind tut das, denn die Kreatur ist selbst ein Kind, orientierungslos in einer Welt, die andere geschaffen haben und deren Regeln sie nicht kennt. Der erste Mensch, mit dem sich die Kreatur anfreundet, ist folglich ein anderes Kind. Das wahre Monster ist die menschliche Gemeinde (die verdächtig bayerisch aussieht. Just sayin’). Damals wurde mir jedenfalls beruhigend erzählt, dass der Kreatur nichts passiert sei, weil sie sich im Wasser retten konnte. Und genau damit beginnt ja das Sequel, das ich wenig später gesehen habe, und ich war richtig froh, dass die Kreatur wirklich den Flammen entkommen war. Von James Whale hatte ich damals keine Ahnung, aber rückblickend ist für mich offensichtlich, warum seine Filme mich so intensiv angesprochen haben. Bis heute ist er einer meiner Liebelingsfilmschaffenden.
Hast du im Hinblick auf den Horrorfilm spezielle Subgenres, die für dich so etwas wie ein Steckenpferd darstellen?
Psychologischer Horror. Mit acht hab ich Psycho gesehen, der obwohl de facto ein Thriller, viel spannender und unterhaltsamer war als irgendein Mainstream-Monster. Und wenig überraschend gesellschaftskritischer Horror. Das klingt immer hochtrabend, aber ist es nicht. The People under the Stairs zum Beispiel ist ein halber Kinderfilm und gesellschaftskritischer Horror. Auch eine schöne Kindheitserinnerung.
Haben sich deine Vorlieben diesbezüglich im Laufe der Jahre verändert?
Kaum. Aber als Kind habe ich alles geguckt, was irgendwie nach Genre aussah. Heute bin ich wählerisch, was ich - wenn überhaupt - außerhalb der Arbeit schaue.
Gibt es Subgenres, die dir noch nie zugesagt haben?
Splatter und Slasher. Das ist ist meist repetitiv und ermüdend. Da fehlt mir die Spannung, der Grusel und vor allem intellektuelle Gehalt. Bevor jetzt jemand Texas Chain Saw Massacer ruft: Der ist eben kein typischer Splatter. Sichtbare Gewalt ist sehr reduziert und man sieht nie, wie die Kettensäge jemanden zerlegt. Gerade dank Tobe Hoopers relative Zurückhaltung entfaltet der Film seine Wirkung. Das heißt aber nicht, dass ich Splatter und Torture Porn für schädlich oder gar gefährlich halte.
Wie sieht deine aktuelle Top Ten in Sachen Horrorfilme aus?
Nosferatu
Das Cabinet des Dr. Caligari
La Chute de la Maison Usher
Freaks
Bride of Frankenstein
Cat People
Dead of Night
The Haunting
Eyes without a Face
Night of the Living Dead
Welches Jahrzehnt würdest du im Hinblick auf das Horrorgenre als das stärkste bezeichnen?
Die 30er. In keiner anderen Dekade gab es mehr Klassiker, die das Genre geprägt und definiert haben. In diesem Jahrzehnt wurde Horrorfilm ein fester Begriff für das Publikum, das diese Filme zuvor als Phantastik oder übernatürliche Thriller kannte.
Von was würdest du im Horrorbereich zukünftig gerne mehr sehen?
Definitiv Werke von Regisseurinnen. Das radikal patriarchalische Studio-Systems hatte Frauen komplett aus dem Horror-Genre ausgeschlossen. Diese Strukturen und die Kategorisierung bestimmter Genres als “Männerfilme” sind bis heute präsent. Deswegen gibt es auch Hunderte Verfilmungen von Edgar Allen Poe und H.P. Lovecraft, aber wenige von Shirley Jackson, Charlotte Perkins Gilman oder Elizabeth Gaskell. Außerdem will ich endlich mehr Filme Schwarzer Regisseur*innen und überhaupt endlich Diversität im Horrorkino.
Hast du abschließend noch ein paar echte Geheimtipps, die selbst bei eingefleischten Horrorfans gerne mal unter dem Rader fliegen?
A Page of Madness ist ein Meisterwerk des japanischen Kinos: ein surrealer Stummfilm, beklemmend und tragisch. La Casa Lobo ist ein animierter Albtraum aus Stop-Motion, Puppen- und Zeichentrickfilm. Verstörender als die absichtlich abstoßende (Anti)Ästhetik ist der reale Hintergrund der fabelähnlichen Story. Le Sang des betes ist de facto eine Kurz-Doku, wird aber aufgrund ihrer drastischen Bilder oft in den Genre-Kanon aufgenommen. Die Aufnahmen aus einem Schlachthaus sind erschreckender als es jeder Kinofiktion sein könnte. Wie schon zu Beginn gesagt: Der echte Horror sind die Menschen und der Alltag da draußen.