Seit 1992 gibt es das internationale Filmfest Hamburg, eines von zahlreichen Festivals in deutschen Städten, welches Filmfans und Kulturbegeisterte jedes Jahr in mindestens 11 Sektionen mit innen- und ausländischen Filmproduktionen versorgt. Die zeitliche Situierung von Ende September bis Anfang Oktober machen das Festival reizvoll, da so zumeist in cineastischen Kreisen sehnlichst erwartete Filme aus Toronto oder Venedig hier verlagert werden. Obendrein gibt es noch etwas Starrummel: Namensgrößen wie Lav Diaz, Atom Egoyan oder Céline Sciamma gaben sich 2019 mit ihren neuen Werken die Ehre und Schauspielerin Nina Hoss bekam den Douglas Sirk-Preis verliehen. 36 von über 140 Filmen durfte ich in meinem Aufenthalt bestaunen, welcher neben Regen und Müdigkeit vor allem von zunehmender Reizüberflutung geprägt war. Nun wird mir die Ehre zuteil, meine Highlights, Enttäuschungen und Entdeckungen hier vorstellen zu dürfen.
Laut und tosend erklingt das Warnhorn, nass und dreckig sind die Räumlichkeiten, beklemmend und klaustrophobisch ist die Umgebung: In Robert Eggers sehnlichst erwartetem zweiten Film Der Leuchtturm verfallen Robert Pattinson und Willem Dafoe als abgebrühte Seemänner auf einer abgelegenen Insel dem Wahnsinn. Identitäre Grenzen beginnen sich aufzulösen, die Manie der Protagonisten verschmilzt mit der lebensfeindlichen Umgebung. Eggers beweist sich erneut als gestaltungstechnische Urgewalt, wenn sein Film immer mehr wie ein lange verschollener Film der 1920er anmutet. Der Leuchtturm ist nicht nur ein schauspielerischer wie inszenatorischer Kraftakt, sondern auch einer der wenigen Filme des Festivals, der sich explizit an ein Genrepublikum wendet, welches Eggers bereits mit seinem gefeierten Debütfilm The Witch begeistern konnte. Ansonsten wählten überraschend wenige RegisseurInnen eine filmische Aufarbeitung im Gewand von Horror, Sci-Fi oder Fantasy. Es bleibt immer noch fraglich ob sich genannte Genres im allgemeinen Kanon als „kulturell bedeutsam“ erwiesen haben, nicht dass sie das jemals müssten.
Namenhaft erscheint hier Katrin Gebbes neuer Film Pelikanblut, welcher die Wunden, die Nora Fingscheidts Systemsprenger vor einigen Wochen aufriss, wohl noch weiter versalzen dürfte. Nina Hoss spielt die alleinerziehende Pferdetrainerin Wiebke, deren neue Adoptivtochter sich innerhalb kürzester Zeit als Alptraum erweist: Die 5-jährige Yara beleidigt, tobt, wütet und erweist sich auf mehreren Ebenen als ernstzunehmende Gefahr für ihr Umfeld. Doch Gebbes Film ist weniger das Porträt einer Horror-Tochter und vielmehr das der Hingabe und Aufopferung einer warmherzigen Mutter. Wiebke begegnet Yara mit genau dem, was Bennie aus Systemsprenger vielleicht am meisten brauchte: Bedingungslosigkeit. Zum Genrefilm wird Pelikanblut erst in seinem letzten Akt, welcher in seiner Ambition niemals vorweggenommen werden sollte und im deutschen Kino in seiner Konsequenz fast schon ein Unikat darstellt.
Genrekino scheint Lav Diaz in seinem jüngeren Schaffen für sich entdeckt zu haben. Nachdem der philippinische Regisseur, der besonders für seine politischen Aufarbeitungen wie die kolossal anmutende Überlänge seiner Filme bekannt ist, in In Zeiten des Teufels den intellektuellen Widerstand seines Landes als Musical verhandelt hat, präsentiert er nun mit The Halt seine Vision der Zukunft: Im Jahr 2034 haben vulkanische Eruptionen das Licht der Sonne ausgeschaltet. Die Bürger der Philippinen bewegen sich nahezu kompletter Finsternis, das futuristische Setting bleibt fast limitiert auf die permanent umherfliegenden Überwachungsdrohnen. Im Zentrum steht ein Diktator, dessen Leibgarden, eine Spionin, mehrere Revolutionäre und eine von Tierblut besessene Sekte. Mit 276 Minuten erweckt The Halt zunächst den Eindruck eines Kraftaktes, ist aber, wie eigentlich jeder Lav Diaz-Film, ein Ereignis.